Liebe Mitglieder, sehr geehrte SpenderInnen und Unterstützer!
Seit wenigen Tagen bin ich aus Nepal zurück und freue mich sehr darüber, dass ich Ihnen viele erfreuliche Neuigkeiten aus dem Dorf berichten darf. Die Projektreise war ein voller Erfolg und ich danke der Shanti Leprahilfe e.V. insbesondere Gründerin Marianne Grosspietsch und ihrem Sohn Heiko dafür, dass ich auch diesmal die Gelegenheit erhielt, am Shanti Gesundheitscamp in Rapcha teilzuhaben. Euer deutsch-nepalesischer Verein Shanti Sewa Griha ist ein großer Segen für die arme Bevölkerung von Nepal und ich danke euch von Herzen für euren unermüdlichen Einsatz. Anhand meines kleinen Reiseberichts und vielen, eindrücklichen Fotos versuche ich hier meine Erlebnisse in Rapcha wiederzugeben.
Ich kann meine Beine nicht mehr spüren. Vom langen Sitzen waren sie eingeschlafen. Wieviele Stunden waren wir schon unterwegs? Ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Ein Blick durch die Windschutzscheibe offenbahrte nichts als Dunkelheit, schwächlich erleuchtet durch die Scheinwerfer des klapprigen Geländewagens. Der Fahrer sprach kein Wort mit mir, auch er war müde und musste sich auf die Strasse konzentrieren. Strasse? Das hier war keine Strasse, sondern ein endloser Pfad durch Nepals Berge. Immer wieder musste der Fahrer großen Felsbrocken und riesigen Schlaglöchern ausweichen, die Fahrgeschwindigkeit hatte sich auf Schritttempo reduziert. Früh morgens um 6 Uhr waren wir in Kathmandu gestartet, alle der Meinung, wir werden bestimmt noch vor Sonnenuntergang in Rapcha eintreffen. Welch ein Trugschluß! Zuerst fuhr ich im großen und sehr bequemen Geländewagen von Heiko mit. Pancha und ich hatten uns um 4 Uhr in Kathmandu bei Shanti Sewa Griha mit dem Team dort verabredet, um gemeinsam mit ihnen nach Rapcha zu fahren. Shanti wollte im Dorf das nächste Gesundheitscamp abhalten und Heiko Grosspietsch, Sohn der Shanti-Gründerin und General Manager des Vereins hatte Pancha und mir angeboten, uns ins Dorf mitzunehmen. Die Fahrzeuge wurden gepackt, Tetriskenntnisse waren erforderlich, um die wichtige, medizinische Ausrüstung verladen zu bekommen. Aber dann waren da auch noch jeweils 400 Paar Schuhe und Socken, warme Jacken für die Kinder von Rapcha und nicht zu vergessen: Litho! Das Aufbaunahrungsmittel, welches wichtige Nährstoffe liefert. Das Laden nahm viel Zeit in Anspruch und so verliessen wir erst um kurz nach 6 Uhr die nepalesische Hauptstadt. Anfangs war die Strasse noch gut, meistens asphaltiert und mit wenigen Schlaglöchern. Je weiter man sich aber Richtung Solukhumbu bewegte, umso schlechter wurden die Strassenverhältnisse. Aber das kannte ich ja bereits von meinem letzten Aufenthalt in Nepal, bei dem wir auch im Geländewagen nach Rapcha gefahren waren. Nach schier endlosen Stunden kamen wir kurz vor Sonnenuntergang in der Bezirksstadt Saleri an. Von hier waren es „nur“ noch ca. 35 Kilometer bis ins Dorf Rapcha. Nun war die Frage: weiterfahren und auf volles Risiko gehen? Für ortsunkundige Fahrer konnte das lebensgefährlich sein. Für Heiko war klar, dass er dieses Risiko nicht eingehen wird. Zu groß war die Verantwortung für sein Team, welches aus 24 Leuten bestand. Und so entschied er, dass die Nacht in der kleinen Stadt Phaplu (sie liegt direkt neben Saleri) verbracht und die letzte Etappe nach Rapcha früh morgens gefahren wird. Nur ein Geländewagen des Shanti-Konvois sollte heute Nacht noch weiter nach Rapcha fahren. Ich witterte meine Chance, heute noch ins Dorf zu kommen. Ich kläre schnell mit unserem Projektleiter Pancha ab, dass ich weiterfahren möchte und schon sass ich bei dem wortkargen Fahrer auf dem Beifahrersitz. Pancha wollte später nachkommen, er musste noch Einiges in Phaplu organisieren. Er reichte mir zum Abschied die Hand und meinte „Good luck!“. In dem Moment wurde mir klar, was ich verdrängt hatte: die Strasse bei Nacht zu befahren konnte das Leben kosten. Ich rief ihm noch zu: „Kann ich dem Fahrer vertrauen?“. Er antwortete: „Ja, ich verpreche es dir. Du wirst heil im Dorf ankommen.“. Mir rutschte das Herz in die Hose.
Mit mir im Fahrzeug sassen noch zwei Zahnärzte und eine Gesundheitsassistentin. Es wurde nichts gesprochen, Anspannung lag in der Luft. Über unzählige Haarnadelkurven, gespickt mit Schlaglöchern und Felsbrocken schlängelten wir uns am Hang entlang und die Nacht legte ihre schwarze Decke über uns. Kamen wir denn nie im Dorf an? Im schwachen Scheinwerferlicht sah ich schemenhaft rechts vor uns neben der Strasse ein Motorrad und zwei Gestalten stehen. Im Schritttempo fuhren wir an ihnen vorbei und ich erkannte die beiden. Ich rief: „STOPP!“ Der Fahrer hielt an, drehte die Seitenscheibe runter und ich blickte in die lächelnden Gesicher von Schuldirektor Man Bahadur Rai und dem Lehrer Jeeban Karki. Sie hatten hier auf uns gewartet, um uns zum Haus von Kaman, Panchas älteren Bruder, zu leiten, wo wir übernachten werden. Die Erleichterung und Freude, welche ich in diesem Moment spürte, kann ich kaum beschreiben. Wir hatten es geschafft und waren endlich im Dorf!
Beim Haus von Kaman angekommen gab es erst einmal ein großes Hallo. Kaman, Rasdhani, Jobir, Khasbir, Maya Devi, Jeeban, Dipa, Hensel, Chandra….und all die anderen aus dem Dorf hatten stundenlang auf unsere Ankunft gewartet. Und wie sehr hatte ich mich auf sie alle gefreut. Rasdhani, mero (meine) Rasdhani! Kamans Frau und ich hielten uns in den Armen und auch wenn keiner von uns beiden die Sprache des anderen spricht, so brauchte es in dem Moment keine Worte. Die Freude über unser Wiedersehen stand uns beiden ins Gesicht geschrieben. Danach bestaunte ich die neue Lodge von Kaman. Er hatte sie neben seinem alten Haus gebaut und sollte von nun an ein Gästehaus sein, in dem er Touristen beherbergen will. Stolz führte er mich in die obere Etage und zeigte mir mein Einzelzimmer. Dies war nun also meine Bleibe für die nächsten vier Tage. Herrlich! Unten in den Küche zauberten Khasbir und Jobir in der kleinen Küche auf dem winzigen Gaskocher das Abendessen. Selig sass ich im grossen Gemeinschaftsraum, dankbar dafür, dass wir alle heil im Dorf angekommen waren. Etwa zwei Stunden später traf auch Pancha mit einigen Leuten des Shanti-Teams in der Lodge ein. Ihm standen die Anstrengungen der letzten Stunden ins Gesicht geschrieben. Er lächelte mich an und meinte: „Ich habe dir doch gesagt, dass du heil ankommen wirst.“.
Am nächsten Morgen wachte ich vor Sonnenaufgang auf, schnappte mir meinen Waschbeutel, ging nach unten und blickte in die strahlenden Gesichter von Kaman, Jobir und Khasbir, welche schon lange auf den Beinen waren. Wir kannten uns mittlerweile seit 11 Jahren und alle drei waren hervorragende Köche und wunderbare Menschen mit einem tollem Humor. Wie oft hatte Khasbir mich schon bekocht? Ich erinnerte mich an einen meiner ersten Trips nach Rapcha, damals gab es noch keinen Fahrweg ins Dorf und ich musste die Strecke zu Fuss bewältigen. Da dies nicht an einem Tag zu schaffen ist (für die Nepalesen schon), wurde auf dem Hochplateau „Ratnangi Danda“ campiert und Khasbir war damals unser Koch. Es war eine eisige Nacht dort oben auf ca. 3300 Metern und ich war dankbar über mein Zelt und meinen warmen Schlafsack, der mich vor den eisigen Temperaturen schützte. Khasbir, Pancha und die anderen Begleiter aus dem Dorf schliefen damals in einem Viehunterstand, was ich allerdings erst am nächsten Morgen bemerkte. Die Temperaturen waren in der Nacht auf -15 Grad gefallen und ich war fassungslos als ich kapierte, dass das Team ohne warme Ausrüstung die kalte Nacht verbracht hatten. Khasbir grinste mich an und meinte: „No problem. We are used to the cold.“ Von da an gab ich Pancha die Anweisung dafür zu sorgen, dass alle aus dem Team in einem Zelt übernachten und Schlafsäcke erhielten, wenn wir wieder einmal campieren mussten. Seitdem sind viele Jahre vergangen und im Dorf hat sich sehr viel geändert. Mit dem Bau des Fahrwegs kamen die ersten Shops nach Rapcha, die Stromversorgung ist meistens gewährleistet, manche Dorfbewohner bauten ihr Haus in die Nähe der Strasse, es eröffnete das erste W-Lan Cafe, jeder versucht auf seine Weise, ein Stück vom Kuchen zu ergattern. Das Handynetz wurde ausgebaut, die Menschen erhielten Zugang zu den Medien und sind nicht mehr vom Weltgeschehen abgeschnitten, doch dies weckte auch Begehrlichkeiten. Nach einem besseren Leben mit mehr Komfort. Was wiederum zur Folge hat, dass viele Bauernhöfe brach liegen, da die Bewohner nach Kathmandu gezogen sind oder ihr Glück in den Emiraten suchen. Soll das die neue, bessere Zukunft von Rapcha sein? In dem alle weggehen und nur noch die Alten, Kranken und die Kinder im Dorf übrig bleiben?
Ich ging vor die Tür, hoch auf einen kleinen Hügel um den Sonnenaufgang zu bestaunen und mich von meinen trüben Gedanken abzulenken. Wie sehr hatte ich diesen Ausblick vermisst. Der Berg Numbur strahlte mich in seinem weissen Kleid an und der Tag war sonnig und klar. Jetzt war ich wirklich im Dorf angekommen. Ich spazierte nach nebenan zu Rasdhani, die gerade dabei war, den Ziegenbock von seinem Unterstand am Haus auf die Wiese zu führen. Ihre Mutter sass vor dem Haus und genoss die wärmenden Sonnenstrahlen. Ich setzte mich zu ihr und schaute den Hühnern dabei zu, wie sie emsig auf dem Boden nach Fressbarem pickten. Ob das Shanti Team schon auf dem Weg nach Rapcha war? Ich ging rüber in die Lodge und fragte Pancha, ob er denn schon etwas von Heiko und seinen Leuten gehört hat. Ja, alles war ok, sie sind unterwegs. Und schon bald darauf trudelte ein Geländewagen nach dem nächsten ein und an der Schule, wo das zweitägige Gesundheitscamp abgehalten werden sollte, wurden schon fleissig die Fahrzeuge mit dem Equipment entladen. Die Schüler hatten schulfrei, viele von ihnen halfen jedoch dem Shanti Team als Volontäre. Nach dem Frühstück spazierte ich den kurzen Fußweg zu Schule- ich brauchte keinen Begleiter- kannte ich den Weg nur allzu gut. Die ersten Dorfbewohner hatten sich schon an der Registrierungsstelle angestellt, um Zugang zu kostenlosen, medizinischen Behandlungen in den Bereichen Dentologie, Physiotherapie, Gynäkologie, Allgemeinmedizin und Opthalmologie zu erhalten. Aber es war noch ein wenig zu früh und die Praxisräume mussten erst noch eingerichtet werden. Daher ging ich erst hinauf zum Kindergarten, der jedoch heute aufgrund des Healthcamps geschlossen war und dann weiter zur Mädchenunterkunft, welche vor gut einem Jahr von meinem Mann und mir feierlich eingeweiht worden war. Von drinnen ertönte fröhliches Gelächter und ich betrat das Girls Hostel. Alles war noch so, wie bei der Eröffnung und ich blieb im Gemeinschaftsraum stehen. Da kam eine junge Frau auf mich zu und stellte sich mir mit einem freundlichen „Namaste, Rena!“ als Dolma Rai vor. Die meisten Dorfbewohner wissen mittlerweile, wer ich bin und durch meine regelmässigen Besuche im Dorf haben sie mir gegenüber keine Scheu. Von Dolma hatte ich bereits viel von Pancha gehört. Sie ist eine sehr engagierte Lehrerin an der Shree Basa Khali Secondary School und betreut die Mädchen, welche im Girls Hostel übernachten. Wir plauderten kurz und dann machte ich mich auf den Weg zu Manis Kumar Rais Geschwistern, welche direkt unterhalb der Mädchenunterkunft wohnen. Mani lebt seit 2017 bei seiner Frau Heike in Frankfurt und wurde über Social Media über die Tätigkeiten von Re:Help in seinem Heimatdorf Rapcha aufmerksam. Mittlerweile haben wir uns schon öfters in Deutschland getroffen und uns sehr intensiv über sein Dorf ausgetauscht. Wie schade, dass Heike und Mani hier nicht dabei sein konnten. Aber sie hatten mir einen Auftrag gegeben: ich sollte auf jeden Fall bei seiner Schwester Manlaxmi und seinem Bruder Binod auf einen Tee vorbeischauen. Und genau das hatte ich jetzt vor. Schon von Weitem sah ich die Rauchschwaden vor dem Haus aufsteigen. Ein Feuer auf dem Vorplatz zu machen war nichts Ungewöhnliches, aber irgendetwas Grosses lag in den Flammen. Mehrere Männer standen mit langen Stöcken und grossen Messern um den Feuerplatz herum und bei näherer Betrachtung sah ich ein dickes Schwein, welches in der Glut lag. Die Männer erklärten mir, dass eine Hochzeit im Dorf bevorstand und das Schwein dafür geschlachtet worden ist. Nun war man dabei, die Borsten abzuflämmen. Da wurde im Haus ein Fenster aufgerissen und Manis Bruder Binod strahlte mich an und schon sass ich in der Gaststube bei einer Tasse Tee.
Nun war es aber Zeit, mich auf den Weg zur Schule zu machen, denn das Gesundheitscamp hatte bestimmt bereits begonnen. Als ich den großen Schulhof erreichte, hatten sich schon lange Schlangen vor den Behandlungsräumen gebildet. Wie ein Lauffeuer hatte sich herumgesprochen, dass Shanti mit seinem Ärzteteam wieder im Dorf war und die Menschen nahmen teils stundenlange Fussmärsche auf sich, um sich behandeln zu lassen. Ich war unglaublich dankbar dafür, dass sich das Ärzteteam so fürsorglich um die Dorfbewohner kümmerte, denn wie sehr hatte ich jahrelang nach einer Möglichkeit gesucht, den Menschen im Dorf Zugang zur medizinischen Grundversorgung zu ermöglichen. Beim regen Austausch mit Shanti-Gründerin Marianne Grosspietsch vor über zwei Jahren erzählte ich ihr von „meinem“ Dorf und dem großen Wunsch, den Menschen dort zu helfen. Marianne zögerte keine Sekunde und bot mir sofort an, ihre Ärzte, welche im Shanti Krankenhaus in Kathmandu arbeiten, regelmässig nach Rapcha zu schicken. Und nun fand bereits das dritte Gesundheitscamp im Dorf statt. Zuerst schaute ich beim Augenarzt vorbei, denn diesesmal hatte er von Shanti eine große Kiste voller One-Dollar-Brillen samt dazugehörigen Gläsern in verschiedenen Stärken erhalten. So konnte er den Patienten sofort eine für sie kostenlose Brille anpassen. Und wie es der Zufall wollte, wurde gerade die erste Sehhilfe ausgegeben. Stolz blickte mich der ältere Mann an und ich muss sagen, die Brille verlieh ihm einen äusserst intellektuellen Touch. Danach ging ich bei den Zahnärzten vorbei, welche alle Hände voll zu tun hatten. Ein Mädchen bekam gerade einen Zahn gezogen und ich litt mit ihr. Dicke Tränen kullerten über ihre Wangen aber kein Schmerzenslaut war zu hören. Ich wanderte weiter ins Zimmer der Physiotherapeutin. Diese hatte gerade drei Patientinnen in Behandlung und sie zeigte ihnen Übungen, welche ihre Beschwerden lindern sollten. Da die Dorfbewohner schon von Kindesbeinen an schwere, körperliche Arbeit leisten mussten, ist der Bewegungsapparat oft schon in jungen Jahren stark in Mitleidenschaft gezogen. Umso wichtiger ist es deshalb, den Patienten mit meist einfachen Übungen zu zeigen, wie sich selbst Linderung verschaffen können.
Um 16 Uhr fand ein Meeting mit dem Schulkomitee der Shree Basa Khali Secondary School statt, denn ich hatte meine Punkte auf der Agenda abzuarbeiten. Ich wollte wissen, wie es um die Betreibung des Girls Hostels stand, was es Neues aus dem Kindergarten gab und was der aktuelle Stand bei unserem Zukunftsprojekt „Bau der Jungenunterkunft“ war. Da aber alle LehrerInnen und auch Schuldirektor Man Bahadur Rai wegen des Gesundheitscamps zeitlich sehr eingespannt waren, rissen wir die Themen nur kurz an und ich bekam einen Gesamtüberblick, was sich im letzten Jahr getan hatte. Ein weiteres Treffen mit dem Dorfkomitee war für den 27.01.2023 angesetzt, an dem wir die Punkte vertiefen wollten. Jetzt war erst einmal wichtiger, dass das Gesundheitscamp reibungslos über die Bühne ging.
Und so ging der erste Tag im Dorf zu Ende, langsam trudelte das Shanti Team in der Lodge ein und man freute sich auf ein gemeinsames Abendessen. Es herrschte ein reges Kommen und Gehen, viele Dorfbewohner schauten vorbei, um einfach Hallo zu sagen oder eine Tasse Tee zu trinken. Ich war recht platt vom langen Tag und freute mich auf mein Bett. Aber da hatte ich die Rechnung ohne die Dorfgemeinschaft gemacht. Wie ich ja bereits wusste, stand im Dorf eine Hochzeit bevor und heute war der Auftakt der Festivitäten, man kann es mit einem Polterabend vergleichen, und alle aus dem Dorf waren dazu eingeladen. Natürlich auch das Shanti Team und ich. Also schnell die Stirnlampe aufgesetzt und schon wanderten wir zum Haus des Bräutigams, wo die Feier stattfand. Laute, nepalesische Musik beschallte den Hof vor dem Haus und es wurde eifrig getanzt und gelacht. Auch ich konnte meine Beine nicht stillhalten. Das Brautpaar kam aus dem Haus, ich gratulierte den beiden, wünschte ihnen alles Gute und legte der Braut eine Khata (Glücksschal) um den Hals. Natürlich wurde auch fleissig Raksi (selbstgebrannter, nepalesischer Schnaps- in dem Fall aus Hirse) ausgeschenkt. Ich verzichtete freiwillig darauf, denn ich hatte keine Lust auf den Brummschädel am nächsten Tag. Kurz darauf lag ich dann endlich in meinem Bett.
Am nächsten Tag wachte ich wieder vor Sonnenaufgang auf und nachdem ich mich gewaschen und mit einer Tasse Kaffee gestärkt hatte, ging ich zum Kindergarten, um mir von dort den Sonnenaufgang anzusehen. Ich wanderte an den Bauernhöfen vorbei, einige Dorfbewohner waren schon wach und grüßten mich freundlich oder winkten mir zu. Ich setzte mich auf einen Stein, schloss die Augen, wartete auf die wärmenden Sonnenstrahlen und lauschte den Geräuschen um mich herum. Irgendwo krähte ein Hahn, die Hunde bellten, Kinderlachen schallte aus dem Haus unter mir und über mir hörte ich eine Propellermaschine, die auf dem Weg nach Lukla war. Nirgendwo auf der Welt wollte ich gerade lieber sein. Aber warum war das eigentlich so? Was machte dieses Dorf so besonders? Diese Frage wurde mir schon oft gestellt und es ist schwer, eine kurze Antwort darauf zu geben. Als ich vor 11 Jahren zum ersten Mal nach Rapcha kam sah ich einfach nur die Armut und die Not, unter der die Menschen dort litten. Aber mit jedem meiner Aufenthalte dort erkannte ich mehr, dass die Dorfbewohner trotz ihres Elends um Vieles reicher waren, als ich es jemals sein werde. Es scheint, als ob ihnen ein nicht enden wollender Optimismus bereits in die Wiege gelegt worden war. Die Krisen, welche sie bewältigen müssen, würden mich verzweifeln lassen. Die Erdbebenkatastrophe 2015 war ein schweres, traumatischen Erlebnis für alle hier, dennoch richteten sie ihren Blick nach Vorne und bauten ihr Dorf ohne Hilfe der nepalesischen Regierung Stück für Stück wieder auf. Sie gehen aufrecht durchs Leben, lassen sich von widrigen Umständen nicht beugen, haben innerhalb der Dorfgemeinschaft einen festen Zusammenhalt, gehen durchwegs freundlich miteinander um und auch die Frauen, welche in Nepal meisten stark unterdrückt werden, haben in Rapcha eine starke Stimme und oft sogar „die Hosen an“. Ihre Lebensfreude ist ansteckend, ihre Zuversicht, dass alles besser wird, unterschütterlich. Und genau deshalb ist es eine Bereicherung diesen Menschen unter die Arme zu greifen. Auch wenn es nur kleine Schritte sind, die Re:Help und die Dorfgemeinschaft von Rapcha gehen, so ist es unser gemeinsamer Weg und der Glaube an eine bessere Zukunft für die kommenden Generationen verbindet uns. Ich machte mich auf den Weg zurück zu Lodge und ging gerade am Haus von Kumar vorbei, als dieser vor die Tür trat und mich auf einen Kaffee ins Haus einlud. Ich blickte auf die Uhr. Zwanig vor Acht. Ein bisschen Zeit habe ich noch, bevor das Frühstück auf dem Tisch steht.
Heute war der zweite Tag des Gesundheitscamps und gegen 10 Uhr machte ich mich gemeinsam mit Pancha auf den Weg zur Schule, um auch heute wieder am Trubel teilzuhaben. Aber vorher wollten wir noch bei Mansali und Ananda vorbeischauen. Ich steckte den Kopf in die Teeküche der beiden und blickte in das erstaunte Gesicht von Mansali. Sofort wurde ihr Lächeln groß und breit und sie rief nach ihrem Mann Ananda. Ihn kenne ich seit meinem ersten Besuch im Dorf, er war damals für den Bau unseres Kindergartens verantwortlich und hat massgeblich dazu beigetragen, dass das Gebäude so schön geworden ist. Nach einem netten Plausch mit Ananda und Masali gingen wir zur Schule. Heute waren auch viele Bewohner aus den umliegenden Gemeinden zum Healthcamp gekommen. Da sah ich eine ältere Dame, die mir sehr bekannt vorkam. Auch sie hatte mich erspäht und kam auf mich zu. Panchas 84jährige Schwiegermutter und ich begrüßten uns herzlich und sie erzählte und gestikulierte und ich versuchte zu erahnen, was sie mir sagen wollte. Pancha kam dazu und übersetzte. Sie freut sich sehr, dass sie mich wiedersieht und dass sie wieder kostenlos die Ärzte aufsuchen darf. Dafür nimmt sie gerne den rund dreistündigen Fussmarsch von ihrem Wohnort zur Schule in Kauf. Ihre Worte berührten mich sehr, denn sie zeigten, wie stark die nepalesische Regierung die ländliche Bevölkerung im Stich lässt, aber dabei war es doch gar nicht mein Verdienst sondern der von Shanti. Die Schlangen vor den einzelnen Behandlungszimmern wurden immer länger, viele hatten ihre Kinder mitgebracht und auch die Dorfältesten kamen gestützt von ihren Enkelkindern, um die Ärzte zu konsultieren. Es war wieder schön zu sehen, wie zahlreich das Angebot an kostenloser, medizinischer Behandlung angenommen wurde und wie dankbar die Dorfbewohner dafür waren. Zum Abschluss des Gesundheitscamps versammelten sich alle Kinder nach Alter auf dem Schulhof. Nun kam ein ganz besonderer Moment, denn Shanti hatte ja noch die 400 Paar Socken und Schuhe, sowie Kleidung an die Kinder auszugeben. Und ich durfte gemeinsam mit Heiko den Anfang machen. Die Allerkleinsten wurden auf eine Bank gesetzt und streckten uns ihre nackten Füßchen entgegen. Na dann, los geht´s! Die Freude bei den Kindern war groß, sie konnten ihr Glück kaum fassen denn für viele war es das erste Paar Schuhe, dass sie bekamen. Aber nicht nur die Kinder waren ausser sich, auch die Mütter waren gerührt vor Dankbarkeit und drückten mir die Hand oder umarmten mich. Was für ein schöner Abschluß des Gesundheitscamps!
Am Abend war in der Lodge volles Haus. Alle Teilnehmer, Helfer und Volontäre des Camps waren zum Abendessen eingeladen, das Haus platzte aus allen Nähten und es wurde gelacht, getrunken und gegessen. Und wie es in Nepal üblich ist, gibt es keine Party ohne Kuchen. Kaman hatte auf seinem kleinen Gaskocher wieder ein wahres Backwunder vollbracht und es schmeckte köstlich. Wir liessen das Küchenteam mit seinen Helfern hochleben und bedankten uns für ihren unermüdlichen Einsatz, denn eine so große Mannschaft zu verköstigen war auch für die erfahrenen Köche eine Herausforderung. Und mit einem kurzen Tanz um das Lagerfeuer ging dieser Tag zu Ende und schon bald darauf schlief ich tief und fest.
Am nächsten Morgen, die Sonne strahlte schon längst vom blauen Himmel, nahm das Shanti Team Abschied von Rapcha mit dem Versprechen, schon bald wieder zu kommen. Sie stiegen in die Geländewagen, wir winkten ihnen zu und bald verschwanden die Autos hinter der nächsten Kurve. Hoffentlich haben sie alle eine reibungslose Rückfahrt und kommen heil in Kathmandu an. Ich durfte noch einen Tag länger im Dorf bleiben und freute mich auf einen ruhigen Ausklang meines Aufenthalts. Für Mittag war mein Meeting mit dem Dorfkomitee angesetzt und so hatte ich genug Zeit, um mich mit einer Tasse Kaffee gemütlich in die Sonne zu setzen. Beim Treffen mit der Dorfgemeinschaft besprachen wir die einzelnen Punkte, welche noch auf meiner Liste offen waren und fixierten die Details und das Budget für den Bau der Jungenunterkunft. Die Grundsteinlegung für den Bau soll bei meinem nächsten Aufenthalt im November erfolgen. Bis dahin sollen alle Materialien zum Baugrundstück transportiert werden, damit danach sofort mit dem Bau losgelegt werden kann. Zum Abschluss an das Meeting überreichte ich noch einen symbolischen Spendenscheck an Schuldirektor Man Bahadur Rai zum Kauf wichtiger Unterrichtsmaterialien. Mein Treffen mit der Dorfjugend, welches ich mir fest vorgenommen habe, muss ich leider auf meinen nächsten Aufenthalt verschieben. Wir alle hatten vergessen, dass heute am Freitag nur bis 13 Uhr Unterricht war und die Schüler am schon lange nach Hause gegangen waren, da es jetzt bereits 13:45 Uhr war. Naja, aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Ich komme wieder.
Am Nachmittag drehe ich mit Kaman eine Runde durchs Dorf, er zeigte mir das neue Gemeindehaus, welches für diverse Feste und Versammlungen gebaut worden war und wir tranken bei den Nachbarn eine Tasse Tee. Ich besichtigte den geplanten Bauplatz für die neue Jungenunterkunft und schaute nochmal bei Manis Schwester Manlaxmi vorbei um diesmal einen Raksi zu trinken. Nach dem Trubel der letzten Tage konnte dieser nicht schaden. Am Abend war es verhältnismässig leer in der Lodge. Nur Pancha, Kaman, Rasdhani, Maya Devi, Man Bahadur, Jobir, Khasbir und ich waren da und wir freuten uns auf ein ruhiges, gemeinsames Abendessen. Dem Küchenteam waren die Anstrengungen der letzten Tage ins Gesicht geschrieben und Kaman meinte, er wäre sehr, sehr müde und würde heute sehr früh ins Bett gehen. Und schon bald darauf gingen in der Lodge die Lichter aus und ich konnte durch die dünnen Wände das Schnarchen der anderen hören.
Der Tag des Abschiednehmens ist für mich immer ein sehr trauriger Tag und es fällt mir mit jedem mal schwerer, dem Dorf den Rücken zuzuwenden. Pancha und ich hatten unsere Taschen gepackt und warteten vor Kamans Lodge auf den Geländewagen, der uns bis nach Saleri bringen wird. Dort wechseln wir dann das Fahrzeug und machen uns auf die lange Reise bis nach Kathmandu. Aber zuerst hiess es Abschiednehmen von all den lieben Menschen, die sich vor Kamans Gästehaus versammelt hatten. Ich blickte in die mir so vertrauten Gesichter und erkannte, dass auch ihnen der Abschied nicht leicht fiel. Nicht nur einmal hörte ich den Satz: „Come back soon, Rena.“. Das werde ich, versprochen! Denn egal wie anstrengend die Anreise ins Dorf ist und wieviel unerwartete Probleme sich einem in den Weg stellen, eines ist sicher: es lohnt sich immer, den weiten Weg nach Rapcha auf sich zu nehmen. Und sei es nur für einen Tag.
*Alle Reisekosten von Renate Kotz und Panche Rai wurden aus privaten Mitteln finanziert.