Mit dem Dancing Car nach Rapcha

Im November reiste Vereinsgründerin Renate Kotz gemeinsam mit Frau Dr. Julia Rüggeberg und Physiotherapeutin Frau Inga Lutter nach Rapcha. Auf der Agenda standen Meetings mit den verschiedenen Dorfkomitees, die Einweihungszeremonie des von Re:Help finanzierten Boys Hostel sowie Besprechungen über zukünftige Projekte. Lesen Sie hier den Reisebericht von Renate Kotz.

„You are the dancing queen, young and sweet only seventeen,….“ laut schallte der Abba Song aus den Lautsprechern des in die Jahre gekommen und etwas abgewrackten Geländewagens und wir sangen alle lauthals mit. Seit zwölf Stunden liessen sich Julia, Inga, Pancha, der Fahrer und ich uns ordentlich durchschütteln. Das Auto tanzte förmlich über die Felsbrocken und Schlaglöcher und der Fahrer musste sich sehr konzentrieren, denn der Abgrund war manchmal gefährlich nah. Auch er war müde von der langen Fahrt – waren wir doch bereits um fünf Uhr morgens von Kathmandu aufgebrochen, um die lange Strecke bis nach Rapcha an einem Tag zu bewältigen. Ich war diese schon öfters gefahren und wusste, dass es sehr anstrengend werden wird. Aber durch die schlimmen Überschwemmungen, welche Ende September das Land heimgesucht hatten, waren ganze Strassenabschnitte weggespült oder von Erdrutschen blockiert worden. Dass die Strasse überhaupt befahrbar war, grenzte schon an ein Wunder. Aber die Nepalesen waren schon immer Improvisationstalente – wie sollte man auch sonst in diesem Land überleben? Irgendwie war die Fahrbahn rudimentär so hergerichtet worden, sodass sie wieder befahrbar war. Befahrbar ja, aber sicher? Nein, auf keinen Fall. Aber die Götter waren auf unserer Seite und so erreichten wir nach gut 15 Stunden im Dancing Car endlich Rapcha.

Von Weitem sah ich schon Kamans Lodge, nur noch zwei Kurven und ein paar Schlaglöcher trennten uns von ihr. Der Fahrer fing wie wild an zu Hupen, um unser Kommen anzukündigen. Endlich hatten wir unser Ziel erreicht und stiegen dankbar aus und beteuertem dem Fahrer, dass er ein „ramro driver“ (ein guter Fahrer) ist. Er quittierte unsere dürftigen Nepalesischkenntnisse mit einem breiten Grinsen. Da kam auch schon Kaman, Panchas Bruder und Inhaber der Lodge, aus dem Haus gerannt und es gab ein großes Hallo und Namaste. In der Lodge warteten Kamans Frau Rasdhani, Maya Devi, Jobir und Him auf uns und schon bekamen wir Blumenketten umgehängt und natürlich durfte der traditionelle Begrüßungstrunk „Roski“ (Hirseschnaps) nicht fehlen und es wurde gelacht und sich gefreut und Kaman war wieder ganz aufgeregt und rannte ständig hin und her. Hier waren wir also nun endlich. Ich bezog mein altes, kleines aber feines Einzelzimmer und Julia und Inga teilten sich ein Doppelzimmer. Schnell die Taschen hochgetragen und das Wichtigste ausgepackt, denn unten duftete es nach Essen und da rief Kaman auch schon, dass die Suppe fertig sei. Ich ging nach unten und trat raus auf den kleinen Balkon. Kamans Hahn, dem die Uhrzeit total egal war, krähte aus voller Brust, die Hühner rannten wild umher und der Hund lag in seiner Hütte und schlief. War ich denn jemals weg gewesen? Alles war so, wie ich es vor einem Jahr verlassen hatte. Nichts hatte sich verändert. Schon Wochen, ja Monate vorher hatte ich auf diesen Moment hingefiebert und nun war ich endlich wieder hier. Inga und Julia sassen schon am Tisch und beide sahen sehr glücklich aus, vielleicht war da auch ein kleines Tränchen zu sehen, so sehr freuten sie sich über diesen warmherzigen und familiären Empfang. Dann wurde auch schon die Suppe aufgetragen und das Kommen und Gehen in der Lodge nahm irgendwie kein Ende, denn jeder wollte eben schnell mal Hallo sagen. Zum Abschluß des Abends hatte Kaman in seiner Backstube einen Kuchen gezaubert, den er uns voller stolz präsentierte. Er schmeckte köstlich!

Am nächsten Morgen genossen wir drei erst mal alle eine „Bucket Shower“ (eine Eimer-Dusche) und danach machten wir uns auf den Weg zum Kindergarten. Pancha und ich hatten in Kathmandu noch reichlich nützliche Dinge eingekauft, Julia und Inga hatten Geschenke für die Kinder mitgebracht und ich wollte mein Meeting mit dem Kindergarten-Komitee abhalten. Schon von Weitem hörten wir das Lachen und Toben der Kinder und ich freute mich sehr auf meinen Besuch, denn nach wie vor ist der Kindergarten eines meiner größten Herzensprojekte. Aber zuerst einmal sahen wir uns draußen auf dem Gelände um, denn bei meinem letzten Aufenthalt vor einem Jahr war aufgefallen, dass einige Instandhaltungsarbeiten anstehen, welche dringend erledigt werden mussten. Ram hatte alles ordnungsgemäss ausgeführt. Das Dach war wieder dicht und konnte den starken Regenfällen in der Monsunzeit wieder Stand halten, der steile Weg zum Kindergarten war mit Treppenstufen entschärft worden, sodass auch kleine Kinderbeinchen den Weg problemlos bewerkstelligen konnten, die Fassade hatte einen neuen Anstrich in einem zarten Rosa erhalten und hinten beim Brunnen waren Wasserhähne auf „Kinderhöhe“ installiert worden. Ausserdem war man gerade dabei, ein kleines „Wartehäuschen“ zu bauen. Viele Eltern, die ihre Kinder morgens zum Kindergarten bringen, bleiben oft den ganzen Tag in der Nähe, da der Fußweg zu weit ist, um nach Hause zu gehen und dann wiederzukommen, um das Kind abzuholen. Speziell in der Regenzeit und im Winter sei das Warten sehr unangenehm. Für mich macht das absolut Sinn und ich machte noch die Anregung, das kleine Gebäude zu verglasen und mit ein paar Büchern auszustatten. Pancha nahm die Idee begeistert auf und informierte gleich Ram darüber. Als wir den Kindergarten betraten riefen schon die ersten Kinder lauthals „Namasteeeeeee!“ Wir begrüßten die beiden Erzieherinnen Maya Devi und Rashmaya, die Kinder setzten sich in einen großen Halbkreis und blickten uns mit erwartungsvollen Augen an. Natürlich wussten sie, dass wir nicht mit leeren Händen gekommen waren. Die großen Taschen waren ja auch kaum zu übersehen. Und während Julia und Inga einen Riesenspass mit den Kleinen hatten, sass ich mit den Mitgliedern des Kindergarten-Komitees draussen vor dem Kindergarten und hielt mein Meeting ab. Am Ende des Treffens fragte Ram, ob wir nachher bei seiner Frau Manlaxmi vorbeischauen könnten, da es ihr nicht gut geht und Julia doch Ärztin ist. Na, das brauchte man Julia nicht zwei mal sagen. Natürlich würde sie sich um Manlaxmi kümmern.

Nach dem Mittagessen in Kamans Lodge kam Nim Prasad zu Besuch, um uns zu begrüßen. Ich freute mich sehr, ihn zu sehen und gleich machten wir ein Selfie von uns, welches wir an seinen Sohn Mani schickten. Mani lebt seit 2017 mit seiner Frau Heike in Deutschland und wir haben uns schon öfters getroffen. Mittlerweile ist Mani Mitglied bei Re:Help, worüber ich sehr dankbar bin. Er kennt die örtlichen Gegebenheiten in Rapcha aber auch den europäischen Lifestyle, was manchmal sehr hilfreich ist. Ich schweife ab, zurück also in die Lodge. Da Julia sowieso einen Hausbesuch bei Manlaxmi machen wollte (sie ist die Tochter von Nim Prasad und Manis Schwester) schnappte sich Julia ihre Ausrüstung und wir spazierten alle gemeinsam zum Haus von Nim Prasad, in dem auch der Rest der Familie wohnt. Dort angekommen, bekamen wir erst mal alle Roksi angeboten, welchen wir aber dankend ablehnten. Eine Tasse heisses Wasser oder ein Tee waren vollkommen ok. Julia untersuchte im Nebenraum Manlaxmi und wir plauderten mit Hilfe von Panchas Übersetzung ein wenig mit dem Rest der Familie. Auf dem Rückweg zur Lodge schauten wir noch in der Mädchenunterkunft vorbei. Diese ist mittlerweile seit knapp drei Jahren in Betrieb und ich wollte gerne sehen, ob dort alles soweit in Ordnung ist. Dolma, die Betreuungslehrerin war vor Ort und führte Inga und Julia im Gebäude herum und ich besah mir mit Pancha hinter dem Haus die Kiwipflanzen, welche Achim und ich hier vor einem Jahr gesetzt hatten. Sie waren sehr gut angewachsen und bei einigen hingen auch schon kleine Früchte dran. Ein Blick ins Gewächshaus zeigte, dass die Mädchen nach wie vor einen grünen Daumen haben. Und das Schwein, welches ebenfalls auf dem Gelände wohnt, scheint sich sauwohl zu fühlen. Der nächste Weg führte uns ein paar Meter bergab zur neuen Jungenunterkunft, welche ebenfalls Re:Help finanziert hat. Endlich konnte ich mir das Gebäude selber ansehen und nicht nur anhand Fotos und Videos, welche mir Pancha in den verschiedenen Bauphasen geschickt hatte. Ein Jahr war seit der Grundsteinlegung, an welcher ich gemeinsam mit Achim teilgenommen hatte, vergangen und schon morgen sollte die Einweihungszeremonie erfolgen. Die Handwerker hatten wirklich tolle Arbeit geleistet und die Unterkunft, in der die Schüler, welche einen langen Fussmarsch zur Schule auf sich nehmen mussten, sollten bald dort einziehen. Staunend besah ich mir das Bauwerk. Wie schön waren die tollen Holzschnitzereien an der Eingangstür gestaltet und drinnen waren die Zimmer schon mit Stockbetten ausgestattet. Jetzt musste das Gebäude nur noch „belebt“ werden.

Nach einer sehr ruhigen und erholsamen Nacht war ich früh auf den Beinen und genoss noch einen schnellen Kaffee, bevor ich mich auf den Weg in Richtung Kindergarten machte. Wie jedes Jahr wollte ich dort auf den Aufgang der Sonne warten und die morgendliche Ruhe geniessen. Aber zuerst einmal musste ich nachschauen, ob sich mir der Berg Numbur zeigt. Raus aus der Lodge und einmal um die Kurve, dann konnte man ihn sehen. Eigentlich. Aber heute war er noch in sein weisses Federbett gehüllt und wollte sich nicht zeigen. Gut, dann halt vielleicht später. Langsam ging ich den Weg Richtung Kindergarten, zwischen den Bauernhöfen hindurch. Die Hirse stand reif auf den Feldern und wartete darauf, geerntet zu werden. Immer wieder krähten von allen Seiten die Hähne, um den neuen Tag anzukündigen und das Dorf erwachte langsam aus dem Schlaf. Ich wählte den Weg oberhalb der Schule, um von dort aus, an der neuen Jungenunterkunft vorbei, zum Kindergarten zu gehen. Ich drehe mich um, blickte in Richtung Numbur (6958m) und blieb seelig stehen, denn er hatte das Federbett zur Seite gelegt und war nun in seiner vollen Schönheit zu sehen. Ich setzte meinen Weg fort und schon von Weitem sah ich, dass auf dem Platz vor der Jungenunterkunft fleissig aufgebaut wurde. Hunderte kleine Fähnchen flatterten im Wind, die Tribüne für die Ehrengäste wurde mit Luftballons und Blumen geschmückt und auch Pancha war schon auf den Beinen und half mit. Hier also sollte ab heute Vormittag die Einweihungszeremonie stattfinden. Zahlreiche Lokalpolitiker und wichtige Gemeindemitglieder waren dazu eingeladen worden, ja sogar der Verteidigungsminister von Nepal hatte sich angekündigt. Er wird mit dem Helikopter aus Kathmandu eingeflogen werden und würde den pensionierten Schuldirektor unserer Schule, Kumar Raj Shrestha, mitbringen. Na, da war ich ja mal auf das Spektakel gespannt. Aber zuerst mal setzte ich mich auf die Stufen beim Kindergarten und genoss die wärmenden Sonnenstrahlen.

Ein Blick auf die Uhr zeigte, dass ich mich langsam auf den Rückweg machen musste, denn um 8 Uhr gab es Frühstück. Aber vorher wollte ich unbedingt noch jemanden einen Besuch abstatten. Ich spazierte an der Schule vorbei und ging zielstrebig in ein Haus direkt neben der Schule. Mal sehen, ob Ananda und Mansali schon wach waren. Ich steckte den Kopf durch die Tür der kleinen Gaststube, blickte in die überraschten Gesichter der beiden und wurde sogleich freudig begrüßt und auf einen Kaffee eingeladen. Als Re:Help damals den Kindergarten gebaut hatte, war Ananda der Bauleiter. Er hatte damals so viel Herzblut und Energie in das Gebäude gesteckt, dass es mich immer noch berührt, wenn ich an die Szene denke, als ich 2017 vor dem Kindergarten stand und einfach nur begeistert davon war, wie schön dieser geworden war. Ananda war so erleichtert über meine Reaktion, dass ich so zufrieden mit seiner Arbeit als Bauleiter war, dass ihm leise die Tränen über die Wangen liefen. Natürlich war ich im ersten Moment etwas irrtiert, denn ich dachte, ich hätte etwas Falsches gemacht oder gesagt. Aber es stellte sich heraus, dass er an sich und seine Arbeit so hohe Ansprüche gestellt hatte, denn dieser Kindergarten war für ihn ein großer Zukunftstraum gewesen. Es war ihm dank meiner begeisterten Reaktion die ganze Last von den Schultern genommen worden. Ich erinnere mich noch genau daran, wie Ananda damals bei der Einweihung des Kindergartens sagte, dass er glücklich darüber ist, dass nun auch die jüngste Generation von Rapcha einen sichern Ort zum Spielen und Erkunden hat. Er hatte immer davon geträumt, dass seine Enkelkinder einen Kindergarten besuchen dürfen und nun wäre dieser Traum dank Re:Help in Erfüllung gegangen. Und jetzt sass ich bei Ananda und Mansali in der kleinen Teestube, genoss meinen Kaffee und sah Mansali dabei zu, wie sie den Teig für die Momos, welche heute Mittag auf der Speisekarte standen, knetete. Sie meinte, ich wäre herzlich dazu eingeladen, zum Mittagessen bei ihr vorbeizukommen. Mit Bedauern lehnte ich dieses verlockende Angebot ab, denn über Mittag würde ich bestimmt noch immer auf der Ehrentribüne sitzen und den endlosen Reden der Politiker zuhören müssen.

Die Einweihungszeremonie war ein wunderschönes Fest. Die SchülerInnen zeigten ihre Tänze, die Politiker hielten ihre Reden, die Sonne lachte vom blauen Himmel, die bunten Fähnchen flatterten im Wind, die Lokalpresse war ganz aufgeregt wegen der Anwesenheit des Verteidigungsministers Manbir Rai, ich durfte das Band, das die Eingangstür des Boys Hostels zierte, unter Applaus durchschneiden und der pensionierte Schuldirektor Kumar Raj Shrestha? Tja, wo war der eigentlich abgeblieben? Als der Verteidigungsminister mit dem Hubschrauber angeflogen kam, war auch Kumar an Bord und wir freuten uns beide sehr über das Wiedersehen. Kurz nahm er auf der Tribüne für die Ehrengäste Platz, aber schon bald darauf war er verschwunden. Der Verteidigungsminister hatte wenig Zeit und musste nach seiner Rede und einer kurzen Besichtigung der Jungenunterkunft zurück nach Kathmandu. Der Heli war schon gestartet worden, der Minister bereits eingestiegen und alles wartete auf Kumar, damit der Hubschrauber endlich losfliegen konnte. Aber er tauchte nicht auf. Pancha ging los, um ihn zu suchen. Kurze Zeit danach spazierte Kumar fröhlich in Richtung Hubschrauber, winkte zum Abschied und stieg ein. „Aber wo war er denn nun gewesen?“, fragte ich Pancha. „Ach, es war ihm recht langweilig auf der Tribüne und er wollte so gerne nochmal die Schule ansehen, in der er über 20 Jahre lang gewirkt hatte. Also ist er runter zur Schule gegangen und hat sich alles in Ruhe nochmal angeschaut“, erklärte mir Pancha. Wie cool ist das denn bitte? Lässt einfach mal den Verteidigungsminister warten. Mega Aktion von dir, Kumar!

Abends sassen wir „three sisters“ (so wurden wir mittlerweile von vielen genannt) gemütlich in Kamans Lodge und liessen den Tag Revue passieren. Wir waren uns einig, dass es ein wunderbares Fest war mit fröhlichen Gästen aber auch mit viel Trara und Tamtam. Die Tür ging auf und einige Mitglieder des RBC (Rapchabhumi Bikash Club) betraten die Gaststube. Pradip, der Vorsitzende des Vereins, begrüßte mich freundlich, bat mich um ein kurzes Meeting und setzte sich zu mir. Hier eine kurze Erklärung was der RBC macht: Der Verein wurde vor zwei Jahren gegründet und sammelt Spenden für einen Nothilfefond, welcher den Einwohnern von Rapcha zugute kommt. Dies betrifft hauptsächlich den Bereich der medizinische Notfallversorgung. Da es aufgrund der Infrastruktur nicht möglich ist, schnelle medizinische Hilfe zu leisten, geht es bei schweren Arbeitsunfällen oder auch bei einem Herzinfarkt sehr schnell um Leben und Tod. In Nepal gibt es keine staatliche Krankenversicherung beziehungsweise generell kein staatliches Gesundheitssystem, daher müssen die Nepalesen sämtliche Kosten für Behandlungen und Transport selber bezahlen. Um diese hohen Kosten abzufedern, sammelt der Verein dafür Spenden. Prakash Rai, der stellvertretende Vorsitzende erzählt, dass vor drei Jahren sein Bruder einen schweren Motorradunfall hatte. Er war in der Regenzeit auf dem Weg von Rapcha nach Salleri tödlich verunglückt. Sein Regenmantel hatte sich in den Speichen verfangen. Trotz Notbergung mittels Hubschrauber und Transport ins Krankenhaus nach Kathmandu hatte er nicht überlebt. Um für die enorm hohen Kosten aufzukommen, hatten damals die Familie und Freunde Geld gesammelt. Aus diesem tragischen Ereignis heraus ist die Idee für die Gründung des RBC entstanden. Als ich letztes Jahr mein erstes Treffen mit dem RBC hatte, war ich sofort begeistert. Hilfe zur Selbsthilfe! Wenn sich schon der Staat nicht um seine Bevölkerung kümmert, dann wenigstens die Dorfgemeinschaft untereinander. Ich hatte damals dem RBC versprochen, dass Re:Help diese tolle Initiative mit EUR 1.000,- unterstützen wird. Leider klappte die Überweisung nicht, da das Konto des RBC nicht SWIFT- tauglich ist (für Auslandsüberweisungen ist das aber erforderlich). Aber nun hatte ich das Geld bar in der Tasche und überreichte es an Pradip, welcher es dankbar entgegennahm.

Heute Abend war auch Kashbir im Einsatz und half Kaman in der Küche aus. Ich kenne Kashbir seit meinem ersten Besuch im Dorf und freute mich sehr darüber, ihn wiederzusehen. Er erklärte, dass er hinter dem Ohr seit Jahren eine Beule hat, welche ständig dicker wird und er fragte Julia, ob Sie sich das mal ansehen könnte. Lange Rede kurzer Sinn: es wurde vereinbart, dass Julia die Beule in den nächsten Tagen operieren wird. Morgen Abend kommt Shanti Sewa Griha ins Dorf um das nächste Gesundheitscamp abzuhalten und dann wird das Klassenzimmer zum OP. Kashbir war ganz seelig darüber, dass er die Beule bald los sein wird, denn diese störte ihn sehr und manchmal juckte sie ganz schlimm. Die erste OP in Rapcha. An der Schule. Na, da war ich jetzt aber gespannt. Da Kashbir den Bann gebrochen hatte, wollten nun auch alle anderen Anwesenden eine ärztliche Expertise von Julia haben und Inga wurde auch kräftig in Beschlag genommen, denn jeder der Dorfbewohner hat irgendein Leiden am Bewegungsapparat. Und so war die Gaststube auf einmal eine allgemeinmedizinische Praxis und Behandlungszimmer für Physiotherapie.

Am nächsten Morgen stand für mich das Meeting mit dem Shree Basakhali Secondary School Komitee auf der Agenda. Eigentlich war es für 10 Uhr angesetzt, aber da heute Samstag war (in Nepal gleichzustellen wie bei uns der Sonntag) dauerte es einige Zeit, bis alle an der Schule eintrafen. An gewisse Dinge werde ich mich wohl nie gewöhnen und ich werde mir merken, wichtige Meetings nicht mehr auf einen Samstag zu legen. Um mir die Wartezeit zu verkürzen, sah ich mir die Schülertoiletten an. Seit meinem ersten Besuch im Dorf vor zwölf Jahren hatte sich nichts verändert. Im Gegenteil. Die hygienischen Zustände waren mittlerweile desaströs und untragbar. Das war auf jeden Fall ein Punkt, den ich in der Besprechung ansprechen musste. Das Meeting war gut und konstruktiv und wir haben uns darauf geeinigt, dass die Schule einen Ingenieur beauftragt, welcher die Pläne und die Kostenberechnung für eine neue Schüler-Sanitäranlage erstellen wird. Das nächste Re:Help Projekt steht also in den Startlöchern.

Am Nachmittag machte ich gemeinsam mit Julia, Inga und Pancha einen großen Rundgang durchs Dorf, viele Dorfbewohner luden uns auf eine Tasse Tee in ihre Häuser ein und wir besuchten die heilige Stätte – Waas genannt-, die für wichtige Zeremonien und Rituale aufgesucht wird. Auf dem Rückweg gingen wir an der Schule vorbei und sahen dort die ersten Autos von Shanti stehen. Ein Teil des Teams war eben im Dorf angekommen und wollte schon für morgen die Klassenzimmer mit den medizinischen Ausrüstungen ausstatten. Die restlichen Mitarbeiter von Shanti würden etwas später am Abend dazukommen. Ich freute mich sehr darüber, dass Shanti wieder nach Rapcha gekommen war, um die Bewohner zu behandeln. Die Gesundheitscamps finden seit 2021 dank der glücklichen Kooperation zwischen Shanti und Re:Help regelmässig statt und ich bin den Shanti Mitarbeitern unendlich dankbar dafür, dass sie den beschwerlichen Weg ins Dorf auf sich nehmen, um den Menschen hier zu helfen. Julia und Inga freuten sich schon sehr auf ihren „Spezialeinsatz“, denn das war der eigentliche Grund, warum sie mich nach Rapcha begleitet haben. Morgen also wurde es ernst. Aber vorher hatten wir noch einen sehr lustigen Abend in Kamans Lodge, denn eines seiner Hühner hatte sich in die Gaststube verirrt und wollte sich nicht fangen lassen. Kaman meinte, das Huhn wäre neu und kennt sich noch nicht aus.

Hmm, wie das duftet! Rasdhani servierte uns ihren dampfenden Hirsebrei zum Frühstück, ein breites Lächeln stand auf ihrem Gesicht. Mero Rasdhani! Meine Rasdhani! Wie sehr hatte ich diese Frau in mein Herz geschlossen. Immer noch stand uns die Sprachbarriere im Weg- sie konnte kein Englisch und mein Nepalesisch reichte gerade mal dafür aus, um in Nepal zu überleben. Aber wir waren Schwestern im Herzen und standen uns auch ohne viele Worte sehr nah. Schweigend genossen Julia, Inga und ich den Hirsebrei und freuten uns auf den Tag, denn heute startete das Gesundheitscamp. Kurz danach waren Inga und Julia auch schon unterwegs zur Schule, welche für die nächsten zwei Tage zum Krankenhaus umfunktioniert wird. Sie wollten schon mal den Ablauf mit dem Shanti Team besprechen und ich wollte ein wenig später nachkommen, denn der offizielle Start war erst für 10 Uhr angesetzt. Ich hatte also noch etwas Zeit und besuchte Kamans Hund, welcher an der kurzen Kette in seiner Hundehütte vor sich hindöste. Er führte wahrlich ein Hundeleben. Keine Gassirunden, keine Nasenspiele, keine Streicheleinheiten. In Nepal hat der Hund nur eine Funktion und zwar die der Bewachung von Haus und Hof. Wenn der wüsste, was ich ihm mitgebracht habe. Langsam zog ich eine Packung Hundeleckerchen aus meiner Jackentasche. Das Knistern der Verpackung liess ihn aufmerksam werden und er blickte mich interessiert an. Ich öffnete die Packung und warf ihm einen Happen vor die Füsse (ich traue fremden Hunden nicht, ich habe selber einen), welchen er neugierig beschnupperte. Zaghaft nahm er das Leckerchen ins Maul, kaute lange darauf rum und befand es wohl für gut. Am Ende meines Aufenthalts war Kamans Hund mein bester Freund. Wenn er mich hörte, wedelte er schon in freudiger Erwartung mit der Rute.

Danach ging ich zur Schule und war überrascht, wieviele Dorfbewohner schon vor Ort waren, um sich untersuchen zu lassen. Ich besuchte Inga und ihre Shanti-Kollegin Sajana, die beiden würden die physiotherapeutischen Behandlungen übernehmen. Inga war voll in ihrem Element, das konnte ich sehen. Die Schlange vor der Tür wurde im Laufe des Tages immer länger und die beiden hatten alle Hände voll zu tun. Ich sah aufmerksam dabei zu, wie Inga gerade einen Patienten untersuchte. Sie sagte zu mir: „Schau dir bitte mal die Muskulatur rund um sein Knie an. Sowas findet man bei uns in Deutschland nur bei Profiradsportlern!“ Das zeigte mir wieder einmal, wie schwer die Menschen – Frauen wie auch Männer – in den ländlichen Regionen Nepals arbeiten müssen und deshalb ihr Bewegungsapparat schon in jungen Jahren so schwer in Mitleidenschaft gezogen ist. Inga war hier also genau an der richtigen Stelle. Ich ging ins Behandlungszimmer der Allgemeinmediziner, in dem auch Julia ihre Patienten behandelte. Auch hier war die Schlange vor der Tür schon lang, aber die Leute warteten geduldig, bis sie an der Reihe waren. An Julias Seite war der Englischlehrer der Schule, welcher ihr als Übersetzter eine große Hilfe war. Auf dem Schulhof herrschte ein Kommen Gehen, die Alten hielten ein Schwätzchen und auch ich setzte mich zu dem einen oder anderen mir bekannten Gesicht. Ganz besonders freute sich ein altes Mütterchen, als sie mich sah. Leider weiss ich ihren Namen nicht, aber sie drückt und umarmt mich jedes Mal so herzlich und bedankt sich immer für all das, was Re:Help im Dorf leistet.

Am späten Nachmittag hatte ich noch ein Meeting mit dem Girls Hostel Management Team. Vor drei Jahren haben wir die Mädchenunterkunft eröffnet und den Schlüssel dafür an die Schule übergeben. Da damals keiner wusste, wie man Schülerunterkünfte betreibt, hat die Schule eine Kooperation mit dem englischen Verein Stay at School geschlossen. Dieser Verein betreibt mehrere Boardinghouses im Solukhumbu. Die Mitarbeiter kümmern sich gut um den laufenden Betrieb und alle sind mit der Zusammenarbeit zufrieden. Bald würde auch das Boys Hostel den Betrieb aufnehmen und Stay at School sich auch um dieses kümmern. Abends sassen Julia, Inga und ich in der Lodge und wir tauschten uns über den ersten Tag des Gesundheitscamps aus. Wir waren alle drei der Meinung, dass es ein wahrer Segen für die Menschen hier ist und wie überaus wichtig. Julia wollte früh ins Bett, denn für morgen um 9 Uhr stand die Operation von Kashbirs Beule am Kopf als Erstes auf ihrem Plan.

„Alles gut gelaufen.“, meinte sie, als ich sie am nächsten Morgen im Behandlungzimmer an der Schule aufsuchte, „die Wunde hat zwar ziemlich stark geblutet, aber Kashbir geht es gut.“ Ich war sehr erleichtert über diese Nachricht. „Aber wer hat dir denn assistiert? Eine von den Shanti Krankenschwestern?“, fragte ich Julia. „Nein. Pancha hat das übernommen und er hat das sehr gut gemacht.“, kam ihre Antwort. Was? Unser Pancha? Assistiert bei einer Operation? Im Ernst? Was kann der eigentlich nicht? Ich freute mich sehr für Kashbir, dass er den Eingriff gut überstanden hatte und als ich seinen Sohn Pradip auf dem Schulhof entdeckte, nahm ich mir diesen gleich zur Brust und wies in eindringlich darauf hin, dass sein Vater sich unbedingt schonen musste. Pradip versprach mir, dass er sich gut um ihn kümmern würden. Auch heute kamen viele Bewohner aus dem Dorf und den umliegenden Gemeinden, um sich untersuchen zu lassen und es herrschte fast ein wenig Jahrmarktsstimmung auf dem großen Platz vor der Schule. Shanti hatte reichtlich Tetanus-Impfstoff mitbracht, welcher fleissig an die Menschen verimpft wurde und dankbar liessen sie sich die Spritze setzten. Über 800 Patienten besuchten an zwei Tagen das Gesundheitscamp. Was für eine großartige Leistung! Am Ende des Tages sassen wir „three sisters“ glücklich und zufrieden aber auch etwas wehmütig in Kamans Lodge. Es war unser letzter Abend im Dorf. Morgen früh um 5 Uhr würden wir in den Geländewagen einsteigen und diesen besonderen Ort mit seinen wunderbaren Menschen verlassen. Viele Dorfbewohner kamen kurz vorbei, um sich zu verabschieden, wir wurden noch mit wunderschönen Tüchern beschenkt und natürlich hatte Kaman einen Kuchen gebacken. Von Rasdhani und Kaman fiel mir der Abschied besonders schwer. Aber ich weiss ja, dass ich zurück kommen werde, wenn ich wieder mit dem Dancing Car nach Rapcha fahre.

Liebe Julia, liebe Inga! Danke, dass ihr euch mit mir auf den weiten Weg nach Rapcha gemacht habt. Es war eine wunderbare Reise und ihr habt so vielen Menschen im Dorf geholfen. Ihr wart GROSSARTIG! Dafür danke ich euch von Herzen!